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"born digital"-Ausgaben

Werden die Inhalte einer Ausgabe von Beginn an für eine digitale Publikation aufbereitet, so wird diese in Anlehnung an die Terminologie der Literaturwissenschaft als „born digital“ bezeichnet. Während bei Retrodigitalisierungen häufig Kompromisse zwischen mediengerechter Aufbereitung und arbeitsökonomisch begründeter Beschränkung auf die bestehenden Inhalte gefunden werden müssen, ist bei genuin digitalen Editionen das Verhältnis von Publikationsform und editorischem Inhalt von vornherein eindeutig. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Aufbau und Form einer solchen Ausgabe in gleicher Weise normiert wären, wie dies für gedruckte Ausgaben gilt: Während diese medientechnisch im Grunde seit dem späten 19. Jahrhundert ausgereizt sind und in letzten Jahren lediglich durch den bezahlbar gewordenen Graustufen- bzw. Farbdruck neue Impulse erhielten, ist das Potential digitaler Editionsformen aus heutiger Sicht noch kaum überschaubar. Entsprechende Ausgaben orientieren sich daher häufig noch immer an bestehenden Konzepten, deren jeweilige Eignung für das digitale Medium kritisch zu hinterfragen ist. Gleichzeitig werden neue Wege beschritten, wo immer sie Vorteile für die Nachvollziehbarkeit und Benutzbarkeit der Ausgabe versprechen. Dies betrifft etwa die Integration von Anmerkungssymbolen im Neusatz oder Faksimile, die eine unmittelbare Zuordnung editorischer Kommentare zum Notentext ermöglichen und damit den Zugang zur Ausgabe insgesamt deutlich erleichtern.

Ein wesentliches Potential von „born digital“-Ausgaben ist die Auflösung der Idee eines eindeutig fixierten Edierten Textes als quasi endgültiges Ergebnis der Edition. Erst durch eine dynamisierte Anzeige des Notentextes, der sich verschiedenen Fassungen, Varianten oder sonstigen Vorgaben anpassen kann, wird die inhärente Deutungsvielfalt der erhaltenen Quellen eines Werkes deutlich. Dies ist letztlich die Voraussetzung für die Umsetzung anspruchsvoller Editionskonzepte wie der textgenetischen Edition im Musikbereich.

Für den Editor bedeutet eine solche Editionsweise wesentliche Veränderungen seiner Arbeitsweise. Während sich einerseits durch digitale Hilfsmittel viele mechanische Arbeitsschritte, etwa bei der Kollation der Quellen, deutlich erleichtert und beschleunigt werden, tritt andererseits eine ausführliche Auseinandersetzung mit den der Edition zugrundeliegenden Codierungen hinzu, die sicherlich ein verändertes Profil der editorischen Arbeit erzwingt. Dabei ist ein Festhalten an den bisherigen Qualifikationen eines Editors unerlässlich, will man nicht die wissenschaftliche Qualität einer Ausgabe aufs Spiel setzen. Digitale Editionen sind damit in besonderem Maße auf eine „Zusammenarbeit der Generationen“ angewiesen.

Die bestehenden „born digital“-Ausgaben setzen diese Eigenschaften in unterschiedlicher Weise um. Die auf Edirom basierende Reger-Werk-Ausgabe (http://rwa.max-reger-institut.de) etwa bleibt konzeptionell einem eindeutigen Edierten Text verpflichtet, während OCVE zugunsten von Faksimiles gänzlich auf einen solchen verzichtet. TüBingen wiederum liefert einen sehr flexiblen dynamischen Notensatz, ohne einen Rückbezug auf die Originalquellen zu ermöglichen; gleiches gilt für CMME.